Dialektologie, Germanisitische Linguistik, Kiezdeutsch, Semantik, Soziolinguistik

„labern“ im Kiezdeutschen

In ihrem populärwissenschaftlichen Buch Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht schreibt die Potsdamer Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese (2012:14) über die von ihr als Dialekt bezeichnete Sprachvariante Kiezdeutsch:

Kiezdeutsch spricht man nicht, weil die eigenen Großeltern irgendwann einmal aus der Türkei eingewandert sind, sondern Kiezdeutsch spricht man mit seinen Freunden, wenn man in einem multiethischen Viertel groß wird, ganz unabhängig davon, ob die Familie aus der Türkei, aus Deutschland oder aus einem anderen Land stammt.

Dass ich diesen Artikel damit beginne, wer Kiezdeutsch spricht und nicht mit einer Definition hat seinen Grund darin, dass Wiese leider keine griffige Definition des Begriffs liefert. Dies spiegelt sich auch auf dem zum Kiezdeutschen angebotenen Infoportal kiezdeutsch.de wider: Der erste Unterpunkt dort lautet „Wer spricht Kiezdeutsch?“ und verfolgt so ebenfalls eine Herangehensweise über die Sprecher.

Screenshot von kiezdeutsch.de

Dies soll hier allerdings nicht als Nachteil gewertet werden (schließlich erläutert Wiese im Rest ihres Buches und an anderen Stellen noch ausführlich die kiezdeutschen Besonderheiten). Was ist denn nun aber Kiezdeutsch? Es handelt sich laut Wiese (2006:6) um eine jugendsprachliche Varietät des Deutschen, die sich von anderen Jugendsprachen darin unterscheidet,

dass sie zum einen einen Hintergrund im ungesteuerten Zweitspracherwerb hat und in Beziehung zu ethnolektalen Varietäten steht (insbesondere zu „Türkendeutsch“, dem Ethnolekt, der sich aus dem Deutsch türkischer Migranten entwickelt hat), zum anderen über solche Ethnolekte jedoch hinausgeht und grammatische Merkmale einer Kontaktsprache aufweist, die sich in multi-ethnischen und multi-lingualen Kontexten entwickelt hat.

Spannend finde ich Wieses Betonung des Multi-Ethnischen, da ich selbst eine in der Innenstadt einer kleineren Großstadt gelegene, von multi-ethnischer Durchmischung gekennzeichnete Schule besucht habe, in der exakt wie von Wiese beschrieben, gesprochen wurde.
Wiese (2006, 2012) konzentriert sich in ihren Ausführungen besonders auf morpho-syntaktische Phänomene, weniger allerdings auf semantische. Hinsichtlich der (lexikalischen) Semantik ist mir dabei vor ein paar Tagen eine (kleine) Besonderheit des Kiezdeutschen aufgefallen: das Verb labern erhält im Kiezdeutschen eine weitere Bedeutung als im Standarddeutschen. Auf duden.de finden sich zwei Bedeutungen von labern:

  1. (abwertend) sich wortreich über oft belanglose Dinge auslassen, viele überflüssige Worte machen
  2. sich zwanglos unterhalten, plaudern

Im Kiezdeutschen erhält labern noch die zusätzliche Bedeutung ‚die Unwahrheit sagen‘. So kann man mit den Sätzen in (1) und (2) problemlos jemanden des Lügens bezichtigen.

(1) Laber nicht!

(2) Der labert doch!

Dies rührt vermutlich aus einer Verkürzung vonWendungen wie Laber keinen Mist her und liegt von der im Duden verzeichneten Bedeutung von labern natürlich auch nicht weit weg.
Eine kurze Suche auf google.de zeigt ebenfalls diese Verwendung. Ein User kommentiert beispielsweise einen Artikel über Kiezdeutsch auf der konservativen Seite jungefreiheit.de, der die Sprecher des Kiezdeutschen nicht gerade gut dastehen lässt mit „Was labert er? […] Alter, er ist voll der häßliche Opfer.“ Dieser Satz lässt sich kaum mit den vom Duden beschriebenen Vorschlägen paraphrasieren, denn weder will der User darauf hinaus, dass der Autor des Artikels übertrieben viele Worte verliert oder dass er plaudert. Vielmehr will er zum Ausdruck bringen, dass er nicht seiner Meinung ist und seine Ausführungen unwahr befindet.

Literatur:

Wiese, H. (2006): „Ich mach dich Messer“: Grammatische Produktivität in Kiez-Sprache. Linguistische Berichte 207: 245-273.
Wiese, H. (2012): Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht. München: C.H. Beck.

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